"Kommt nur - habt kein Angst, fahrt nach Hause - und heult nicht."

In unserer Rubrik EINWURF lassen wir in unregelmäßigen Abständen Teilnehmer unserer Seminare zu Wort kommen, die sich zu unterschiedlichen Themen rund um den Fußball in Osteuropa äußern. Den Auftakt macht Stepan Chaushyan, der im September 2017 an unserem Seminar in Berlin teilnahm. Er ist Journalist und arbeitet in Moskau bei der bekannten russischen Sportzeitung Sovetskij Sport.

 

 

 

 

 „Kommt nur – habt keine Angst, fahrt nach Hause – und heult nicht“

 

Gibt es in Russland Probleme mit Rassismus? Ja, natürlich, ungefähr in demselben Maße wie in Italien, wo die UEFA im Oktober Lazio Rom für die „Affenlaute“ bestrafte, die einem Spieler des FC Chelsea aus dem Gästeblock von Lazio entgegen schallten.

 

Gibt es in Russland Probleme mit Gewalt innerhalb der Fanszenen? Natürlich, auch dieses Problem existiert, und zwar ähnlich wie in England, wo sich während eines Europa League-Spiels Fans des FC Everton mit denen von Olympique Lyonnais prügelten, oder wie in Madrid, wo Leicester City-Fans einen Tag vor dem Champions League-Spiel gegen Atletico in der Innenstadt marodierten und dabei politische Losungen in Bezug auf Gibraltar skandierten.

 

Kommt es bei uns vor, dass die Polizei zum Schlagstock greift? Vielleicht passiert es schon mal wie in den Niederlanden, wo mir ein uniformierter Polizist, bewaffnet mit Pistole und Stock, meine Mütze vom Kopf riss, wohl nur, weil ihm nicht gefiel, was auf der Mütze geschrieben stand. Das war vor dem Champions League-Spiel meines Clubs ZSKA Moskau gegen Feyenoord Rotterdam.

 

Stereotypen über Russland

 

Worauf will ich hinaus? Wenn man irgendetwas Negatives ausmachen will, wirst du auch fündig. Wenn du dich also unbedingt ängstlich fühlen willst, wenn du nach Russland zur WM fährst, wird es eben schlimm für dich. Eines ist allerdings verwunderlich: Warum lassen sich Europäer, die gemeinhin als Leute mit einem weiten Horizont gelten, von solchen Stereotypen beeinflussen? Nicht alle in unserem Land trinken Wodka, es ist auch nicht immer kalt und Schnee fällt – wie in vielen anderen Ländern – nur im Winter. In den Straßen sieht man auch keine Bären, die Balalaika spielen, und Fußballfans prügeln sich auch nicht an jeder Ecke.

 

Vor kurzem habe ich zusammen mit Kollegen aus Russland, aus Belarus und aus der Ukraine das Seminar zur „Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ besucht, das von „Fankurve Ost“ organisiert wird. Während des einwöchigen Programms in Berlin haben wir erfahren, wie sich die Fanszenen in Deutschland organisieren und engagieren, wie die sozialpädagogischen Fanprojekte mit „problematischen“ Fans arbeiten, mit was für Problemen die Polizei im Umfeld des Fußballs zu kämpfen hat.

 

Erfahrungen in Deutschland

 

In Deutschland habe ich gesehen, wie die Polizei mit Fans umgeht, die in Fußballstadien Straftaten begehen. Wie man sie in Zellen wegsperrt, wie man Fans im Stadion mit hochmodernen Kameras beobachtet, wie sie an der Einlasskontrolle penibel genau durchsucht werden. Glaubt mir, dass alles unterscheidet sich im Großen und Ganzen nicht davon, wie die Polizei in Russland im Fußball-Umfeld arbeitet und vorgeht. Und auch der Hass, den Ultras gegenüber der Polizei empfinden und pflegen und der häufig die Grenzen des Vernünftigen überschreitet, unterscheidet sich in Russland nicht wirklich.

 

Ich erfuhr, dass in Deutschland bei verschiedenen Behörden, sagen wir, „schwarze Listen“ geführt werden, auf denen Gewaltverbrecher, aber wohl auch eher unbescholtene Fans geführt werden, die nicht selten zufällig auf diesen Listen landen und sich dann wundern, wenn sie die Auswärtsspiele ihrer Vereine nicht mehr besuchen können. Ein Sanktionsmittel in Deutschland ist auch das Stadionverbot. Auch wir in Russland haben selbstverständlich solche Listen. Aktuell stehen über 300 Familiennamen auf diesen Listen, darunter eine Frau. All diese Leute werden die Spiele der WM im eigenen Land nicht besuchen können.

 

Genau diese Listen sollen die Garantie dafür sein, dass während des Turniers in Russland alles glatt laufen soll. Niemand will auf diese Listen geraten, wenn bis zum Beginn der WM nur noch derart wenig Zeit bleibt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für eine Angst die Fans hier umtreibt, wenn sie sich vorstellen, sie würden die WM, das erste große Fußballturnier, in ihrem Land verpassen. Unter anderen Bedingungen wäre es nicht vorstellbar gewesen, dass die Fans des Moskauer Clubs Spartak während des Champions League-Spiels gegen Liverpool noch nicht einmal Pyrotechnik gezündet haben. Dasselbe passierte beim Spiel ZSKA gegen Manchester United bzw. passierte eben nicht.

 

Ich bin sogar überzeugt, dass Provokationen von, sagen wir, englischen Fans während der WM ohne eine Reaktion bleiben würden. Im Monat des Turniers wird es in Russland eine Art „Paradies“ geben, was für die Ohren des Europäers seltsam klingen mag. Es wird eine Situation ähnlich wie während der Olympiade 1980 in Moskau geben, als in der Sowjetunion tatsächlich eine kurze Zeit des Kommunismus anbrach – ich meine nicht den mit Lagern und Repressionen, sondern den, der wirklich den Menschen diente – mit niedrigen Preisen, vollen Regalen in den Läden und sogar mit lächelnden Menschen.

 

Die Fan-ID

 

Für die WM 2018 hat man in Russland auch ein neues System eingeführt, das absolute Sicherheit garantieren soll – es wird sogenannte Fan-Id`s geben, also Ausweise für die Fans. Jeder, der ein Ticket zur WM erwirbt, wird auch solch eine ID erhalten. Diese wird auf Grundlage von persönlichen Pass-Daten ausgegeben. So wird die Polizei kontrollieren können, wer ins Stadion gelangt – was vor allem auf die Gefahr durch die Hooligans ausgerichtet ist, denen der Zugang zu den Stadien verboten ist. Wer diese Regelung zu umgehen versucht, wird bestraft: mit einer empfindlichen Geldstrafe oder mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Tagen.

 

Diese Ausweise werden nützlich sein, entsprechende Gesetzesbrecher auch während des Turniers zu kontrollieren. Wenn man beispielsweise in Nizhnij Novgorod an Ausschreitungen beteiligt ist und identifiziert wird, wird die Fan-ID helfen, demjenigen den Zugang zu einem Stadion schon am nächsten Tag zu unterbinden – und zwar in allen WM-Städten.

 

All diese Veränderungen wurden möglich, weil die russische Gesetzgebung entsprechend stärker auf die Kontrolle der Fußballfans ausgerichtet werden konnte – speziell für die WM. Dies soll garantieren, dass die Kontrolle in den Händen des Staates verbleibt und „Fußball-Verbrecher“ keine Chance haben.

 

Das klingt sicherlich ein wenig wie in einem Polizeistaat. Aber diese Maßnahmen werden nicht ergriffen, weil es auf den russischen Stadiontribünen hinsichtlich der Gewalt so furchtbar wäre. Ich kann mich sogar nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal in einem russischen Stadion oder im Umfeld des Stadions eine heftige Schlägerei gesehen habe. All diese Maßnahmen sind dafür da, um den Gästen der WM die Angst zu nehmen, in unser Land zu kommen.

 

Kommt nach Russland

 

Das alles bedeutet natürlich nicht, dass es während der WM überhaupt keine Vorfälle geben wird. Natürlich kann man irgendwo in eine Schlägerei mit irgendwelchen Betrunkenen geraten, beispielsweise in einem Nachtclub. Vielleicht wird man auch Opfer eines Straßenraubs oder es fällt einem ein Ziegel auf den Kopf… aber all das kann schließlich auch in jedem anderen Land der Erde passieren, in Deutschland, in Tschechien oder in England. Mit dem Fußball hat das überhaupt nichts zu tun.

 

In Russland gibt es eine populäre Redewendung: „Tritt ein – hab keine Angst, verlasse den Ort – und heul´ nicht“. Noch häufiger verwendet man die Phrase ironisch. Ich würde mir wünschen, wenn ihr wirklich nach Russland kommt – ohne euch zu fürchten. Und dann, wenn ihr wieder nach Hause fahrt, solltet ihr nicht weinen, sondern viel mehr: lächeln.

 

 

Aus dem Russischen von Ingo Petz

 

Hinweis: Die Inhalte unseres Blogs EINWURF spiegeln in keinem Fall die Meinung von „Fankurve Ost – Fußball und Gesellschaft“ wider.