Bereits seit April 2014 organisieren wir unser Seminar "Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft". Dieses findet seit 2016 jedoch nicht nur in Berlin statt, sondern auch in der Ukraine, in die wir vom 26. Oktober bis zum 2. November 2017 nun zum zweiten Mal mit unserem Seminar reisten, um uns vor Ort über die Probleme und Herausforderungen der Fanszenen und des ukrainischen Fußballs zu informieren. An dem Seminar nahmen 16 junge Sportjournalisten, aktive Fans und Fanbetreuer aus Belarus, Russland und der Ukraine teil. Geleitet wurde das Seminar von Peter Liesegang und Thomas Dudek.
Wie schon beim Seminar im vergangenen Jahr erwartete die Teilnehmer auch diesmal ein prallgefülltes Programm. Die Reisen führten von Kiew nach Lviv, von dort wieder zurück in die ukrainische Hauptstadt und von Kiew nach Charkiv in den Osten des Landes. Es fanden insgesamt neun Treffen und Gespräche statt, bei denen es nicht nur um Fußball und um Fankultur ging, sondern auch um zivilgesellschaftliche Themen. Wie es sich jedoch für ein Fußballprojekt gehört, standen natürlich auch zwei Fußballspiele auf dem Programm.
Kiew
Bevor es mit dem Programm jedoch richtig losging, startete das Seminar am 26. Oktober mit der Ankunft der Teilnehmer in Kiew und einem traditionellen Kennenlerntreffen. Bereits dieser Abend war geprägt von vielen langen und interessanten Gesprächen, in denen es um die unterschiedlichen Probleme ging, welche die organisierten Fans in den drei osteuropäischen Ländern haben. Während in Belarus und Russland aufgrund der autoritären Strukturen der beiden Staaten organisierten Fans und ihrer Selbstorganisation generell mit sehr großem Misstrauen begegnet wird, ist es in der Ukraine die oligarchische Struktur des Fußballs, die Fan-Initiativen bremst und behindert. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch die Wirtschaftskrise, die nicht nur auf viele Klubs finanzielle Auswirkungen hat, sondern auch für einen massiven Zuschauerrückgang in den ukrainischen Stadien sorgte.
Wie kontrovers über die ukrainische Fanszene diskutiert wird, zeigte sich bereits während unseres ersten Programmpunkts am 27. Oktober.
Bei dem Treffen mit den Chefredakteuren Sergej Bolotnikov (ua.tribuna.com) und Michail Reutskij (sport.ua), deren Portale auch kritisch über die ukrainischen Fanszene berichten und vor allem über negative Auswirkungen wie Extremismus und Rassismus, kam es zu einer spannenden Diskussion, ob es sich bei den rassistischen oder antisemitischen Vorfällen um Einzelfälle handelt oder diese Auswüchse ein generelles Problem in den ukrainischen Kurven sind. Nach diesem Gespräch führte uns unser Weg in das NSC Olimpijskij, das Kiewer Olympiastadion, das für die EM 2012 umgebaut wurde und in dem im nächsten Mai das Champions League-Finale stattfinden wird. Bei der Stadionführung wurde uns nicht nur das dazugehörige Museum gezeigt, sondern auch die Mixed Zone sowie die Umkleidekabine von Dynamo Kiew, das im NSC Olimpijskij seine Heimspiele austrägt. Nach der Mittagspause stand mit dem Besuch der alten Spielstätte von Dynamo Kiew die zweite Stadionbesichtigung auf dem Programm. Ein Programmpunkt, der auch einen großen zeitgeschichtlichen Charakter hatte. Während des Euromaidans fanden direkt vor den Toren des Stadions, das sich in unmittelbarer Nähe zum Maidan und der Werchowna Rada sowie dem Präsidentenpalast befindet, heftige Kämpfe zwischen Demonstranten und Truppen der Polizei-Sondereinheit Berkut statt. Von der Brutalität dieser Tage zeugen am Haupteingang zum Stadion, vor dem auch ein Denkmal für den legendären Trainer Valerij Lobanovskij steht, die Gedenktafeln für die ermordeten Demonstranten. Letzter Programmpunkt des Tages war ein Treffen mit dem bekannten Journalisten Artem Frankov, Chefredakteur der in der Ukraine populären Zeitschrift "Futbol" und Präsidiumsmitglied des ukrainischen Fußballverbandes FFU, sowie Serhij Makarov, Präsident der Persha Liha, der zweithöchsten ukrainischen Spielklasse. Beide berichteten über die strukturellen und finanziellen Probleme, mit denen der ukrainische Fußball zu kämpfen hat – was auch dazu geführt hat, dass nur noch zwölf Teams in der höchsten Spielklasse um die Meisterschaft kämpfen und dass traditionelle Klubs zu Zwangsabstiegen verdammt sind bzw. ganz aufgelöst werden.
Lviv
In den frühen Morgenstunden des 28. Oktober startete unsere Reise nach Lviv, wo uns am Nachmittag Jurij Nazarkovich, Presssesprecher des FK Karpaty Lviv, im kleinen Museum des Klubs empfing. Am nächsten Morgen begann unser Programm mit einem Treffen mit Taras Pavliv. Der bekannte Karpaty-Fan sprach mit uns über zwei Stunden über die Fankultur in Lviv, die Vereinspolitik, die von den Fans als Teilbesitzer des Klubs mitbestimmt wird, und die Situation der engagierten Fans in der Ukraine. Unser nächster Termin führte uns zum Premjer Liha-Klub NK Veres aus Rivne. Der neugegründete Verein, der wegen des Stadionneubaus seine Heimspiele in der Lviv-Arena austrägt, versteht sich als "Narodny Klub", als Nationalklub. Laut Konzept ist der Verein nicht abhängig von Oligarchen, so wie die meisten anderen Vereine in der Ukraine, sondern versucht sich durch Sponsoren, Medienmarketing und Engagement der Fans zu finanzieren. Wie das Konzept genau funktioniert, erläuterte uns die Vereinsführung in einem einstündigen Gespräch in der EM-Arena von 2012. Zum Schluss des Tages stand die Partie zwischen NK Veres und Olimpik Donezk auf dem Programm. Diejenigen Teilnehmer, die an dem Tag nicht genug bekommen konnten von Fußball, besuchten dazu noch das am Abend angepfiffene Spiel zwischen Karpaty Lviv und Dynamo Kiew.
Kiew
Am 30. Oktober ging es wieder zurück nach Kiew, wo wir am Nachmittag die NGO KrimSOS besuchten. Diese unterstützt politisch Verfolgte auf der von Russland annektierten Halbinsel und hilft Menschen, die die Krim verlassen mussten, ein neues Leben in der Ukraine aufzubauen. Das auch solche zivilgesellschaftlichen Termine wichtig sind, zeigte uns die Reaktion der Teilnehmer. "Vieles, von dem bei diesem Gespräch erzählt wurde, war uns unbekannt", erklärten unsere Gäste. Der nächste Tag war zuerst dem Sportjournalismus gewidmet. Igor Tsyganyk, bekannter Sportmoderator des Fernsehsenders "2+2", sprach mit uns im Gebäude des Senders über seine Arbeit, den Sportjournalismus in der Ukraine und die Presselandschaft des Landes. Nach der Mittagspause führte uns unser Weg zum kleinen Zweitligisten FK Obolon. Dort arbeitet mit Maxim Sholomko nur einer von fünf Fanbetreuern, die es in der Ukraine überhaupt gibt. Er hat bereits an unseren Seminaren in Berlin teilgenommen.
Charkiw
Mit der Zugfahrt nach Charkiv traten wir am 1. November die letzte Reise unseres Seminars an. In der ostukrainischen Metropole, wo Schachtar Donezk wegen dem Krieg im Donbass seine Heimspiele austrägt, trafen wir wenige Stunden vor dem Anpiff der Champions League-Partie zwischen Schachtar Donezk und Feyenoord Rotterdam, Ultras des ukrainischen Spitzenklubs. So wie der Verein mussten auch diese wegen dem Konflikt in der Ost-Ukraine ihre Heimat verlassen. Welche Folgen die Flucht aus ihrer Heimat auf ihr Leben als engagierte Fans, ebenso aber auch wie auf ihr Privatleben hat, erzählten sie uns während des mehrstündigen Gesprächs. Zudem berichteten sie über die politische Situation, die vor und nach dem Ausbruch des Konflikts in Donezk herrschte. Zum Abschluss des Seminars besuchten wir das Spiel zwischen Schachtar Donezk und Feyenoord Rotterdam.
Neben dem offiziellen Programm nutzten die Teilnehmer die Zeit immer wieder, um über die Schwierigkeiten des Fußballs in ihren Ländern zu diskutieren und Möglichkeiten zu erörtern, Faninitiativen in ihren Ländern zu etablieren. Ein Pluspunkt solcher Reisen ist sicher auch, dass die russischen Teilnehmer vor Ort die Möglichkeit bekamen, sich über die Lage der Ukraine abseits der staatlichen russischen Propaganda zu informieren und mit den ukrainischen Teilnehmern die Folgen des Krieges in der Ostukraine zu diskutieren.
Bei der Gelegenheit möchten wir uns bei allen Teilnehmern des Seminars für ihre Neugier und ihr Engagement bedanken, die das Seminar damit erst lebendig gemacht haben. Ein besonderer Dank gilt Igor Gonomai, Jurij Konkevich und Oleksandr Ostapa, die im Vorfeld des Seminars die Organisation vor Ort übernahmen.