Einen neuen Fußball kennengelernt

Im vergangenen März fand unser Seminar zur „Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ statt – mit 16 Journalisten, Fans und Vereinsmitarbeitern aus Russland, aus Belarus und aus der Ukraine, Pawel, Teilnehmer des Seminars, kommt aus Belgorod im Süden Russlands. Er hat seine Eindrücke, die er während der Woche gesammelt hat, für uns aufgeschrieben.

 

Vor mehr als einem Monat hatte ich das Glück, die Stadt Berlin besuchen und Teilnehmer des Seminars „Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ sein zu dürfen. Ich habe nie als Journalist gearbeitet und war auch nie in einer Funktion in einem Fußballverein tätig. Aber ich bin seit vielen Jahren aktiver Fan des russischen Fußballklubs FC Energomash Belgorod, der in der dritthöchsten Klasse meines Landes spielt. Es ist ein typischer Provinzklub, der nicht sehr viel Geld, aber eine treue Anhängerschaft hat.

 

Leider ist die Einstellung gegenüber Fußballfans in Russland wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern von vielen Seiten per se sehr negativ. Und ich denke nicht, dass das nur an den Fans liegt, sondern an den Problemen in der Gesellschaft im Ganzen. Der Fußball hat bei uns keine übergreifende gesellschaftliche Idee und die Vereine sind keine Mitgliedervereine wie in Deutschland, wo Leute wie du und ich den Fußball für sich, ihre Freunde und ihre Kinder organisieren. Bei uns gehört der Fußball weitgehend dem Staat oder staatlichen Unternehmen, was viele Probleme mit sich bringt. Deswegen brachte das Seminar für mich viele neue und überraschende Erkenntnisse.

 

Die Woche war so intensiv und spannend, die Gespräche auch mit den anderen Seminarteilnehmern aus der Ukraine und aus Belarus so spannend, dass die Zeit wie im Flug vergangen ist. Mir wurde schnell klar, dass in Deutschland Fußball wirklich gelebt wird, als würde sich die ganze Welt um dieses Spiel drehen. Die Organisatoren des Seminars begrüßten uns am ersten Tag im Stadion an der Alten Försterei, der Heimat des 1. FC Union Berlin, bei einem Freundschaftsspiel des Zweitligaklubs gegen den Bundesligisten VfL Wolfsburg. 80 Prozent der Plätze in diesem Stadion sind Stehplätze, was schon ungewöhnlich ist, wenn man überlegt, dass in den meisten neuen Fußballarenen Sitzplätze gebaut werden, was für die Stimmung nicht förderlich ist. Zudem erfuhr ich, dass die Fans und Mitglieder des Vereins 2008 an einer riesigen Umbauaktion des Stadions teilnahmen – ohne Geld dafür zu bekommen, was unterstreicht, wie sehr sich Fan und Verein als eine Familie sehen. Obwohl wir bei einem Freundschaftsspiel waren, hatte ich das Gefühl, bei einem Volksfest zu sein. Man redete miteinander, Kinder liefen über die Tribünen. In Russland wäre das bei fast allen Vereinen undenkbar. Über 1000 Fans waren gekommen an einem regnerischen Donnerstagabend. Das war nur der Eindruck des ersten Tages – aber er hatte schon mein ganzes Bild, das ich vom Fußball habe, ein wenig ins Wanken gebracht. An den folgenden Tagen hatten wir so viele interessante Treffen, bei denen wir erfuhren, wie Fankultur und Fanarbeit in Deutschland funktioniert, wie sich Fans organisieren, um ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen. Wir hatten Gespräche mit der Polizei, mit Schriftstellern, Journalisten, mit Mitarbeitern von verschiedenen Vereinen, mit Organisatoren von zahlreichen Initiativen, mit Fans und mit Mitarbeitern von sozialpädagogischen Fanprojekten – ein Konzept, das es in Russland überhaupt nicht gibt. An jedem Tag wurden meine ersten Eindrücke bestätigt. Das Leben in Deutschland, die Gesellschaft scheint mit dem Fußball verwoben.

Wir haben auch von der 50 plus 1-Regel erfahren, die es Investoren im Profifußball verbietet, die Mehrheit der Anteile eines Vereins zu übernehmen. So soll verhindert werden, dass ein Unternehmen oder eine Person einen Verein zur Geisel seiner eigenen wirtschaftlichen oder persönlichen Interessen macht. Dass Mitglieder wie in Deutschland die Geschicke ihres Vereins mitbestimmen, die Führung des Vereins wählen und an Entscheidungsprozessen teilhaben dürfen, war mir völlig neu. Kein Wunder, dass es im Umfeld des deutschen Fußballs so viel Eigeninitiative gibt. Beeindruckt hat mich auch die Arbeit der sozial-pädagogischen Fanprojekte, die einerseits mit Fans arbeiten, andererseits Fans aber auch helfen, ihre Interessen und Rechte zu wahren und zu schützen. Wir haben Fanprojekte in Berlin und in Magdeburg besucht. Viele unserer Teilnehmer waren einfach sprachlos zu sehen, dass Fans in den Fanprojekten ein echtes Zuhause haben, wo sie sich treffen und austauschen, wo sie ihre Choreographien vorbereiten oder über Probleme mit dem Fachpersonal reden können, wenn man Probleme in der Schule oder in der Familie hat. Nach unserer Woche hat jeder der Seminarteilnehmer mit einem ganz anderen Blick auf den Fußball geschaut – und verstanden, dass er viel mehr sein kann als das Spiel auf dem Platz und als die Atmosphäre im Stadion.

 

Nachdem ich nach Belgorod zurückgekehrt bin, hatte ich ehrlich gesagt ein ambivalentes Gefühl. Einerseits hatte ich all diese inspirierenden Eindrücke gewonnen, ich war begeistert, und andererseits war mir bewusst geworden, dass wir auf völlig unterschiedlichen Planeten leben. Das Leben auf Eurem Planeten ist uns mehr als 20 Jahre voraus. Was mich aber wirklich sehr freut: Es gibt Menschen wie die Organisatoren dieses Seminar, die versuchen, unseren Planeten nicht abdriften zu lassen (dafür möchte ich mich wirklich ganz herzlich bedanken). Ich habe nun wieder mehr Motivation, trotzt aller Probleme und Schwierigkeiten etwas mehr für die Fanbewegung in meiner Heimatstadt zu tun. Vielleicht schaffe ich es, dass sich wieder mehr Menschen für unseren lokalen Fußballklub interessieren, ins Stadion gehen und den Verein als Mittelpunkt des sozialen Lebens begreifen. Das wäre für uns schon ein großer Schritt. Ich will auch versuchen, Kontakt mit der Polizei und auch mit den Behörden aufzunehmen, um vielleicht ein besseres gegenseitiges Verständnis zu erreichen. Bei uns ist nicht alles schlecht. Unser Verein hat ja auch wirklich Interesse, mit uns als Fans zu arbeiten. Das ist schon ein großes Plus. Ich will auch mehr Kreativität und Ideen in meine Fangruppe bringen. Das Seminar hat mich auch dahingehend unglaublich bereichert. Nach meiner Rückkehr konnte ich es kaum erwarten, wieder ins Stadion zu gehen. Als es endlich soweit war, entlud sich die Anspannung mit dem ersten Paukenschlag unseres Trommlers und mit einem lauten Ruf, der unsere Mannschaft nach vorne treiben würde. Schließlich sind wir die Fans! Und Fußball ohne Fans ist wie ein Mensch ohne Seele!