Fußball und soziale Verantwortung


Nachdem wir Anfang August 2019 ein Arbeitstreffen in Kyiv veranstaltet hatten, stand nun ein zweigeteilter Workshop in der ukrainischen Hauptstadt und in der Stadt Zhitomir an, wohin wir vom Regionalen Fußballverband des Gebiets Zhitomir eingeladen wurden. Bei dem Workshop, an dem insgesamt über 30 Personen teilnahmen, sollte das Thema „Soziale Verantwortung im Fußball“ im Vordergrund stehen. Wie kann man also den Fußball nutzen, um über ihn soziale und gesellschaftspolitisch relevante Projekte zu lancieren. Zudem ging es um unser Schwerpunktthema im Projekt: die Arbeit der sozialpädagogischen Fanprojekte. Neben Faninitiativen und Journalisten aus der Ukraine und aus Belarus nahmen Verbands- und Vereinsmitarbeiter teil sowie Philipp Beitzel von der Koordinationsstelle Fanprojekte bei der dsj (KOS), Gerd Liesegang, Vizepräsident des Berliner Fußballverbandes (BFV), und Gerhard Seckler, der vor zwölf Jahren die mittlerweile mehrfach ausgezeichnete Faninitiative Augsburg Calling gegründet hat.

 

In den Räumlichkeiten des Traditionsvereins Dinamo Kyiv wurde der Workshop von Svetlana Rybakova mit einem Input zur aktuellen Situation und zu den Problemen des ukrainischen Fußballs eröffnet. Rybakova arbeitet in der Marketingsabteilung der PFL, in der die Profivereine der zweit- und dritthöchsten Klasse organisiert sind. Im Wesentlichen nannte sie folgende Punkte, mit denen der ukrainische Fußball aktuell zu kämpfen hat: zu wenige Zuschauer, kaum professionelle Strukturen, was auch die Arbeit mit den Fans anbelangt. Fanbeauftragte gebe es zwar in einigen Vereinen, diese würden aber meist ehrenamtlich arbeiten, häufig seien sie auch für das Marketing verantwortlich. Der Fußball sei im Großen und Ganzen nicht rentabel, was Investoren fernhalten würde. Zudem gebe es kaum Solidarität unter den Akteuren im Fußball. Dennoch gebe es einige Vereine, die in Bezug auf ihrer Fanarbeit einen alternativen Weg gehen würden: beispielsweise Veres Rivne, Obolon Brovar oder Desna in der Premjer Liha. In der nachfolgenden Diskussion wurde auch betont, dass man diese schwierige Situation auch nutzen könne, um eine Brücke zwischen Vereinsstrukturen und den Fans zu schaffen, die sich ehrenamtlich im Verein und in der Fankultur engagieren wollten. Im nächsten Vortrag ging es um die Organisation des Amateurfußballs in Berlin, wo es fast 400 Fußballvereine gibt, die nahezu allesamt von Ehrenamtlichen organisiert werden – ein prägnanter Unterschied zur Ukraine. Gerd Liesegang referierte vor allem über die weitreichende soziale Arbeit und die Qualifizierung von ehrenamtlicher Arbeit. Er berichtete von Projekten für Kinder- und Jugendschutz, Antidiskriminierungs- und Antigewaltprojekten und von Weiterbildungskursen, mit denen der Berliner Verband Ehrenamtliche auf ihre umfassende Arbeit sich vorbereiten hilft. Nach der Pause erklärte Philipp Beitzel von der KOS die umfassende Arbeit der über 60 sozialpädagogischen Fanprojekte in Deutschland, die sich mittlerweile als ein wichtiges Standbein der Jugendarbeit herausgebildet haben und die als Transmitter zwischen Jugendlichen und offiziellen Strukturen fungieren, gleichzeitig junge Fußballfans auch unterstützen, wenn diese im Rahmen des Fußballs soziale Projekte auf die Beine stellen oder den Fußball nutzen wollen, um gesellschaftpolitische Themen zu transportieren. Im Anschluss zeigte Gerhard Seckler, ein langjähriger Fan des FC Augsburg, wie man den Fußball nutzen kann, um eine gastfreundliche und friedliche Willkommenskultur zu etablieren. Das so entstandene Projekt Augsburg Calling trägt so auch zu einem positiven Image der Stadt Augsburg bei, was von Tourismus und Politik begrüßt wird. Teilweise wird das Projekt so auch beispielsweise über den städtischen Tourismus finanziert. Seckler und sein Team organisieren für die Gästefans ihres Vereins rund um das entsprechende Spiel ein mehrtägiges Programm mit Stadtführungen, Lesungen und Konzerten, bei denen sich Heim- und Gästefans näher kommen können. Bei der anschließenden Gesprächsrunde wurde einmal mehr deutlich, wie wichtig die Teilnehmer und Teilnehmerinnen den internationalen Erfahrungsaustausch ansehen. „Ich bekomme bei diesen Treffen immer so viele neue Ideen und Inspirationen“, sagte beispielsweise Tanya Sirenko, die sich vorgenommen hat, ein Frauen-Empowerment-Projekt im Rahmen des Fußballs zu organisieren. „Wir stecken zwar noch in den Kinderschuhen. Aber in kleinen Schritten versuchen wir etwas zu verändern.“ Maxim Sholomko, Fanbeauftragter von Obolon Brovar, und Mitberünder der Fußball-NGO „Football Democracy“ merkte an, dass die bestehenden Strukturen sehr hemmend für die Eigeninitiative von Fans seien, da sie auf den autoritären Strukturen der post-sowjetischen Zeit fußen. „Durch unser Engagement und unsere Projekideen, die dem Verein ja auch zugute kommen, können wir aber versuchen, diese Strukturen langsam aufzuweichen. Das wird lange dauern. Aber irgendwann man uns nicht mehr vorbeikommen.“

 

Am nächsten Tag ging es schließlich nach Zhitomir, einer Stadt, die rund 100 Kilometer westlich von Kyiv liegt. Zwei der Mitarbeiter des dortigen Fußballverbandes hatten an unseren Seminare zur „Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ in Berlin teilgenommen und vorgeschlagen, einen Workshop in ihrer Heimatstadt abzuhalten, um Vereinsvertretern und Verbandsmitarbeitern Inspirationen für die Neuorganisation des Fußballs und die Kraft des Fußballs im sozialen Bereich mit auf den Weg zu geben. Von einem dieser ehemaligen Teilnehmer wurden wir begrüßt: Ruslan Mayevski ist Geschäftsführer des Regionalen Fußballverbandes. In seinem Auftaktvortrag umriss er die Arbeit seines Verbandes, der seit 2016 besteht und in dem in der kommenden Saison 110 Mannschaften starten werden. Der Verband wolle die Trainerausbildung und der Mädchen- und Frauenfußball in Zukunft stärker fördern. „In all den Jahren wurde der Nachwuchsfußball vernachlässigt“, sagte Mayevski. „Da wollen wir ran und uns bemühen, dass wir in diesem Bereich nach vorne kommen.“ Der Verband organisiere auch Informationsveranstaltungen, auf denen man Hilfestellungen zur Gründung von neuen Mannschaften und Vereinen leiste. „Allerdings haben wir ein starkes Defizit an Plätzen und Sportanlagen, was wir in den kommenden Jahren beheben müssen.“ Nach einem geselligen Abend in einem Restaurant in Zhitomir, bei über Fußball und Fankultur fachgesimpelt und Projektideen entwickelt wurden, besuchten wir am nächsten Morgen die Spartak-Arena, in der Drittligist Polissiya Zhitomir zuhause ist, und in der die städtische Fußballakademie untergebracht ist. Diese wurde in jüngster Zeit ausgebaut. Im Moment spielen mehr als 800 Nachwuchsfußballer in der Schule. Nach einem Stadionrundgang und einigen Interviews, die unsere Gruppe lokalen Medien gab, wurde der Workshop mit weiteren Vorträgen von Gerd Liesegang, Philipp Beitzel und Gerhard Seckler fortgesetzt. Yuri Konkevich, Mitgründer des Fanprokets Volyn, berichtete davon, wie sich die Faninitiative um den Zweitligaverein Volyn in der Stadt Lutsk in relativ kurzer Zeit als ernst zunehmender Partner für den Verein etabliert hat. Man tauscht sich über Neuerungen im Verein aus, organisiert zusammen Freundschaftsspiele, unterstützt den Verein mit Marketingkampagnen, zudem wird Konkevich künftig Vorträge an der Universität Lutsk zum Thema Fanprojekte halten. Am Ende folgte in einer Reflexionsrunde der Austausch von Kritik und Ideen. Gerd Liesegang schlug beispielsweise vor, im kommenden Jahr eine Reise einer Berliner Nachwuchsauswahl in die Ukraine organisieren zu wollen. Zudem wollen die ukrainischen Teilnehmer untereinander eine digitale Kommunikationsplattform etablieren, um eine bessere Vernetzung unter Gleichgesinnten voranzutreiben.

 

Bericht auf der Seite von Dinamo Kyiv.

TV-Beitrag im lokalen Fernsehen von Zhitomir.

Bericht vom Fußballverband Zhitomir.